Christoph Solstreif-Pirker
Über die nicht-intentionale Einfachheit
Über die Kunst ist schon viel geschrieben worden. Jahrtausendelang hat der Mensch künstlerisch gearbeitet, und genauso lang hat er versucht, ebenjenes künstlerische Tun in Worte zu fassen, getragen vom Bestreben, die Besonderheit und Singularität dieser Handlungsform zu beschreiben. Dieser Text zeigt sich wohl als ein erneutes Bemühen, ins Künstlerische vorzustoßen, wohlwissend, dass es dort sehr schnell unübersichtlich werden kann und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, sich im Gestrüpp von Deutungen, Definitionen und Positionen zu verheddern. Vielleicht, so zeigt es sich in diesem Zusammenhang, ist Kunst viel einfacher als gemeinhin proklamiert – oder vielleicht wäre es zumindest notwendig, die Einfachheit in der Kunst (die Einfachheit im künstlerischen Tun ebenso wie die Einfachheit in der Rezeption von Kunst) wieder einzufordern. Als eine Gruppe US-amerikanischer Kunstschaffender in der Mitte des 20. Jahrhunderts begann, mit reduzierten Formen, Farben und Inhalten zu arbeiten, zeigte sich in ihren Arbeiten eine abgeschlossene Einfachheit. Die Minimalisten verschlossen ihre platonischen Körper so gut es ging, kaum ein Riss, kaum eine Spur, kaum eine Irritation war in ihren Bildern, Skulpturen und Installationen wahrnehmbar. Wiewohl (oder vielleicht sogar: weil) von Kunstmarkt und Kunstgeschichte gleichermaßen gefeiert, äußerten sich bald Stimmen, die die Glätte und ganz allgemein den elitären Charakter der Minimal Art kritisierten: Was die dergestalt präsentierte Reduktion vermissen ließ, war nichts weniger als das Leben selbst. So war es nicht verwunderlich, dass sich eine Gegenbewegung bildete, die die starren reduzierten Formen mit Lebendigkeit zu infiltrieren versuchte: Die Arbeiten der Post-Minimalisten waren jenseits der geschlossenen Galerietüren verortet, sie interagierten mit natürlichen Prozessen, sie luden zur Interaktion mit ihnen ein, sie wuchsen, veränderten sich.

Die orts-spezifische Installation Spiral Jetty (Robert Smithson, 1970) ließe sich somit als aufgeschlossene Einfachheit bezeichnen, die nicht nur betrachtet, sondern auch buchstäblich begangen werden konnte. Kunst wurde zugänglich und verband sich mit den individuellen Lebenswelten der Rezipienten. In den Arbeiten der Post-Minimalisten spielten die Entwicklung, die Veränderung und das Voranschreiten eine zentrale Rolle – interessanterweise ließen sie sich dergestalt mit den Idealen des Fortschrittsoptimismus verbinden und zeigten sogar deutliche neoliberale Tendenzen (es ist kein Zufall, dass der Höhepunkt der Post-Minimal Art in den 1980er und 1990er-Jahren, also in einer Phase der schrittweisen Entstaatlichung und der Freisetzung der Marktwirtschaft in den USA und vielen Staaten West-, Mittel-, und, nach 1989, auch Osteuropas liegt). Arbeiten wie Spiral Jetty schienen den Rezipienten ganz organisch zuzuflüstern: Wenn ich mich verändern kann, kannst du es auch! Sieh doch, wie schön Veränderung aussieht! Komm und entwickle dich weiter! Wir haben es also hier mit einer aufgeschlossenen Einfachheit zu tun, die sich mit dem Hellen, dem Lebendigen, dem zukünftig Werdenden auseinandersetzt – und die gleichzeitig als Komplizin eines immer skrupelloser agierenden Kapitalismus enttarnt werden muss. Eine solche Form der künstlerischen Einfachheit soll in diesem Text nicht weiter detailliert werden, tatsächlich ist sie als hochgradig problematisch anzusehen. Viel interessanter für eine Zeit, in der „der Tod unsere einzige Gewissheit [ist]“ (Caraco 1986, 7), wie es der große Pessimist Albert Caraco (1919-1971) in den ersten Zeilen seines Bréviaire du Chaos so treffend ausdrückte, scheint eine Form der Einfachheit zu sein, die sich weniger dem Hellen, Progressiven, als vielmehr dem Dunkeln, Regressiven zuwendet: die das Vergehen, Sterben, Untergehen thematisiert, sichtbar, spürbar, erfahrbar macht. Es wäre schlussendlich eine Form der Einfachheit, die ohne Imperativ und ohne versteckte Botschaft auszukommen hätte.

“Job”. The Suffering Man. Study. 1887.
Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, im Archiv des Statens Museum for Kunst in Kopenhagen das Gemälde „Job“ (1888) von Vilhelm Hammershøi zu besichtigen. Es zeigt die biblische Figur Hiob in sitzender Position, ist jedoch so dunkel gehalten, dass das Motiv kaum erkennbar ist: Das Bild ist fast durchgängig schwarz, nur durch starke Beleuchtung von der Seite lassen sich die Konturen einer Person ausmachen. Hammershøi hatte versehentlich Ölfarbe mit Teer gemischt, wodurch das Bild zu dunkel wurde; es verblieb im Archiv, wo es über Jahrzehnte hinweg weiter verdunkelte und erst 2020 wieder öffentlich gezeigt wurde. Dieses Bild war ein Kunstwerk von unglaublicher Einfachheit und bestechender künstlerischer Tiefe. Dies lag jedoch weniger an der farblichen Reduktion oder am Ernst des Motivs, sondern vielmehr daran, dass das Kunstwerk selbst ein Missgeschick war: ein Bild des Scheiterns, eine Darstellung ungeplanter – und damit echter – Vergänglichkeit, eine bildnerische Konfrontation mit dem Tod. Ähnlich ist es mir nur mit Béla Tarrs Film The Turin Horse (2012) gegangen, der in dramatischen Schwarz-Weiß-Kontrasten die Apokalypse der Welt und der zwei Protagonisten des Films zeigt; an seinem Ende ist, ähnlich wie bei Hammershøi, die Leinwand fast durchgängig schwarz, das letzte Licht ist vergangen. Und dennoch zeigt sich in diesen letzten Momenten, an der Schwelle des Todes, ein Funken Hoffnung, wie der Erzähler aus dem Off spricht: „We can hear them breathing, only their breathing can we hear. Dead silence outside, the storm is over“ (Tarr 2012). In der Todesstille ist der Sturm zu Ende. Es wäre eine künstlerische Praxis zu entwickeln, die sich den ästhetischen Prozeduren dieser Todesstille annimmt, sie anwendet und anderen zur Verfügung stellt. Damit würde sich eine künstlerische Einfachheit bilden, die Menschen hinabtauchen lässt, sie mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert und damit – paradoxerweise – Trost, Hoffnung und Zuversicht spendet. Die solcherart entstehenden künstlerischen Arbeiten müssen keineswegs schwarz sein; vielmehr wird es mehr und mehr notwendig, die Auseinandersetzung mit Kunstwerken des Scheiterns, mit gescheiterten Kunstwerken zu fordern und zu fördern. Schlussendlich ist das menschliche Leben nichts anderes als ein großes Drama des Scheiterns: Ein Bewusstsein davon zu entwickeln – und sei es über künstlerische Wege – kann paradoxerweise dabei helfen, Mensch zu sein, zum ersten und einzigen Mal. Die nicht-intentionale, ungeplante und dennoch bewältigbare Begegnung mit dem Tod – in welcher künstlerischen Form auch immer – könnte dazu führen, die barbarischen Stürme der Gegenwart ein wenig einzudämmen.
Referenzen
Caraco, Albert. 1986 [1982]. Brevier des Chaos. Übersetzt von Isabel Matthes. München: Matthes & Seitz.
Tarr, Béla. 2012. The Turin Horse. London: Artificial Eye.
INDICAȚII DE CITARE
Christoph Solstreif-Pirker ,,Über die nicht-intentionale Einfachheit’’ în Anthropos. Revista de filosofie, arte și umanioare nr. 12 / 2025
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